Die Betriebskantine gilt als Auslaufmodell, nicht erst seit der Pandemie. Um ihre Mitarbeiter dorthin zu locken, brauchen Unternehmen neue Ideen.
DIE ZEIT Nr. 27/2021, 30. Juni 2021, Viola Diem
Harald Wohlfahrt löffelt Suppe. Der 65-Jährige hat als Koch der Schwarzwaldstube mehr Michelin-Sterne eingesammelt als irgendjemand sonst in Deutschland. An einem Mittwoch im vergangenen August aber sitzt er in der Betriebskantine des Dübelherstellers Fischer in Waldachtal – Tischplatten auf Alu-Beinen, mit Lamellen verdunkelte Fenster, weiße Kittel hinter der Ausgabetheke – und probiert die Vorspeise: Karotten-Kokos-Suppe mit Ingwerschaum. Dann serviert eine Mitarbeiterin die Ricotta-Ravioli auf Baby-Blattspinat mit Selleriestroh, Kartoffel- Parmesanschaum und geschmolzenen Tomaten. Wohlfahrt nickt zufrieden. „Sehr gut.“
Einmal im Monat kocht Wohlfahrt gemeinsam mit dem Fischer-Küchenteam für die 1400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Stammsitz in Waldachtal. „Natürlich konnte das Team auch schon kochen, bevor ich kam. Aber ich kann ihnen beibringen, was die Sterneküche den Betriebsrestaurants voraushat“, sagt Wohlfahrt.
Wie in den meisten Unternehmen des Landes war der Kantinenbetrieb bei Fischer in den vergangenen Monaten eingeschränkt. Nun endet bundesweit die Homeoffice-Pflicht, Mitarbeiter kehren nach und nach ins Büro und damit auch in die Kantinen zurück.
Ein knappes Jahr musste die Kooperation zwischen dem Dübelhersteller aus dem Nordschwarzwald und dem Sternekoch pandemiebedingt pausieren. Spätestens nach den Sommerferien wird Wohlfahrt aber wiederkommen. Er hat den Parmesanschaum nach Waldachtal gebracht – und ist damit gewissermaßen Teil eines Kampfes um die Mittagspause. Laut dem Ernährungsbericht des Bundeslandwirtschaftsministeriums gingen vor Ausbruch der Pandemie nur 16 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland mindestens einmal pro Woche in die Kantine. Drei Jahre zuvor waren es noch 21 Prozent. Und eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) ermittelte: Mehr als jeder Dritte Erwerbstätige mit Zugang zu einer Kantine isst dort nie.
Für die Unternehmen ist das schlecht. Zunächst sind da die Kosten. Der Betrieb einer Kantine wird unverhältnismäßig teuer, wenn dort nur wenige Essen verkauft werden. Vor allem aber bringen Kantinen den Firmen viele Vorteile: Gemeinsames Essen stärkt Untersuchungen zufolge den Teamzusammenhalt. Der Weg zurück an den Arbeitsplatz ist kurz. Und wer es richtig anstellt, tut etwas für die Gesundheit der Angestellten und das eigene Image als Wohlfühl-Arbeitgeber.
Nicht nur Fischer, auch andere Unternehmen rüsten deshalb ihre Kantinen für neue Ansprüche. Leckerer soll es werden, gesünder, schneller.
Annette Wagner hat als Architektin keinen Einfluss darauf, wie es in der Betriebskantine schmeckt. Sie ist für das Gefühl verantwortlich, das man beim Essen hat – und dafür, ob und wie die Kantine genutzt wird. Die 44-Jährige geht über eine Baustelle in Berlin-Friedrichshain. Am Ufer der Rummelsburger Bucht wächst mit dem B:Hub eines der größten Bürogebäude der Stadt. Drei Jahre lang haben Wagner und ihre Kollegen vom Büro Barkow Leibinger an den Entwürfen gefeilt. Noch ist erst etwa ein Drittel fertig. Etwa in der Mitte des 300 Meter langen Gebäudes entsteht die Kantine. Wagner klappt ihren Laptop auf und zeigt einen Grundriss. Tische und Stühle sind darauf als winzige Rechtecke und Kreise dargestellt und unterschiedlich gefärbt. Es gibt nicht nur einen Typ Tisch, sondern fünf. Zum Beispiel Blau: Klassisch aus Eichenholz für bis zu sechs Personen. Orange: eine lange Tafel für größere Gruppen oder Nachzügler und Neue, die nicht allein essen möchten. Rosa: Runde Kaffeetische für den Bereich um die Terrasse. Gelb: Kleine Tische für diskrete Gespräche in einem abgeschirmten Teil. Was haben Sie sich dabei gedacht, Frau Wagner?
„Wer eine Kantine plant, muss sich mit der Arbeitswelt der Nutzer beschäftigen. Wir gehen davon aus, dass in dieser Kantine auch gearbeitet wird, weil Arbeits- und Besprechungsräume in Bürogebäuden eigentlich immer rar sind. Darum haben wir die verschiedenen Tische, die eher an Co-Working-Spaces angelehnt sind. Es gibt nur 200 Plätze, statt 400, die sonst bei 2000 Leuten üblich wären. Wir nehmen bei diesen Nutzern an, dass nicht alle zur gleichen Zeit essen werden und viele im Homeoffice sind.“
In Deutschland entstanden die ersten Speiseräume in Unternehmen mit der industriellen Revolution. Anfangs konnten Arbeiter ihr mitgebrachtes Essen dort warm machen und verzehren. Später boten die Fabriken selbst Essen an. „So mussten die Ehefrauen nicht mehr jeden Mittag die Erbsensuppe im Henkelmann vorbeibringen und hatten selbst noch mehr Zeit für Fabrikarbeit und die Kinder“, sagt Ulrike Pfannes, Professorin für Verpflegungs- und Versorgungsmanagement an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW). Eine der ersten Betriebskantinen, die während der industriellen Revolution entstanden, war die „Arbeiter-Speiseanstalt“ des Chemiewerks Hoechst.
In den feuchten Kellern, in denen die Kantinen untergebracht waren, ging es in erster Linie darum, die hart schuftenden Menschen bei Kräften zu halten und so Unfällen vorzubeugen. Es kam einfache Hausmannskost auf die Teller: Eintöpfe, Kartoffeln, Brot. Im Krieg boomte die Fabrikküche. 1943 wurden 4,5 Millionen Menschen in über 17.000 Küchen verpflegt. Und ihre Zahl stieg in den Jahrzehnten danach weiter an.
Dann kam die Konkurrenz, zumindest in den Städten: immer mehr Gastronomie, Bäckereien, Restaurants, Imbisse. Vor allem seit den Neunzigern, hat Pfannes beobachtet, näherten sich Kantinen Restaurants an.
Der Wandel fängt beim Namen an: Die Speiseanstalt von damals und die Kantine von gestern, denen der lauwarme Ruf der Gemeinschaftsgastronomie anhaftet, werden nun gern als Betriebsrestaurant bezeichnet. Oder sie bekommen einen individuellen Namen: Vi heißt etwa die neue durchgestylte Kantine des Heizungsbauers Viessmann. Auch in Kantinen gibt es heute Designerlampen und - stühle, einen Basilikumstrauch auf dem Tisch, Front-Cooking oder Kellnerinnen und Kellner, die die Angestellten empfangen, ihnen Plätze zuweisen und das Essen bringen.
Harald Wohlfahrt glaubt, die Qualität des Essens sei in den meisten Kantinen besser als ihr Ruf. Trotzdem hat er für Fischers Betriebsrestaurant ein paar Ideen mitgebracht – und die überraschen. Ausschließlich Bio und gesund müsse es nicht sein, sagt er. Hauptsache, die Zutaten kämen aus der Region und schmeckten. Wie bringt man damit einen Hauch Sterneküche in die Kantine, Herr Wohlfahrt?
„Es geht um Details in der Verarbeitung, neue Gartechniken, mehr Vielfalt auch bei vegetarischen und veganen Speisen, Kreativität. Natürlich wiederholen sich Zutaten. Aber man muss den Parmesan nicht immer streuen, man kann auch einen Schaum daraus herstellen. Oder einen Klassiker wie die Maultäschle mit einer Wildfüllung servieren. Mit manchen Kreationen komme ich bei der Belegschaft nicht durch: Taubenfleisch brauche ich nicht anbieten. Genauso wenig wie ein 60-Gramm- Medaillon mit ein paar Pfifferlingen. Da reicht den Mitarbeitern die Menge einfach nicht.“
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, in der Betriebsverpflegung nur noch zweimal die Woche Fleisch zu servieren. Vielen Mitarbeitern schmeckt das nicht. Eine RKI-Untersuchung aus dem vergangenen Jahr fand heraus, dass Kantinen mit gesünderen Angeboten gerade bei Älteren schlechter ankommen.
Und: Nach einer Auswertung des Caterers Apetito ist die Currywurst noch immer das beliebteste Kantinenessen (vom letzten Jahr einmal abgesehen, als sie hinter Spaghetti Bolognese auf Platz 2 landete). Volkswagen startete während Corona sogar einen Lieferdienst für die Kollegen im Homeoffice. In einem Radius von 15 Kilometern um das Wolfsburger Werk wurde ihnen die Currywurst nach Hause gebracht – vorgekocht, aber noch nicht gebraten. Sie hätten sich vor Anfragen kaum retten können, erzählt Niels Potthast, Gastronomieleiter bei Volkswagen. Wenn Harald Wohlfahrt bei Fischer kocht, wird dagegen keine Currywurst angeboten. Diese Konkurrenz soll dem Sternekoch erspart bleiben.
Unternehmen müssten sich subtile Strategien überlegen, um die Mitarbeiter vom gesunden Essen zu überzeugen, glaubt die Wissenschaftlerin Ulrike Pfannes: Die Salate attraktiver ausleuchten, das Süßkartoffelcurry mit Gewürzjoghurt stärker subventionieren als die Käsespätzle.
Gleichzeitig wächst die Konkurrenz für Unternehmen, die ihre Mitarbeiter selbst bekochen, aber auch für große Caterer wie Aramark, Apetito oder die Compass Group, die deutschlandweit Tausende Kantinen beliefern. Start-ups entdecken den Markt und versprechen mehr Flexibilität, Digitalisierung oder Home-Office- Kompatibilität.
So wie Therese Köhler mit ihrer Firma heycater!. Etwa vier Jahre ist es her, dass sie im Wohnzimmer ihrer Berliner WG stand und auf ein Flipchart schrieb: „Zukunft der Kantine“. Nun spaziert die 30-Jährige durch den Speiseraum ihres ersten Kunden, einem großen Konzern mit Sitz in Berlin. Köhler hat eine Plattform entwickelt, über die Firmen Catering bestellen können – also Essen, das auf Wunsch in die Büros und Konferenzräume geliefert wird. Köhler und ihr Team erledigen für die Caterer den Papierkram, stellen die Plattform und bekommen dafür rund 20 Prozent vom Umsatz.
Auch der Großkunde in Berlin hat anfangs über die Plattform bestellt. Und war so zufrieden, dass er Köhler 2018 fragte, ob sie ein Konzept für die Betriebskantine ausarbeiten wolle. Köhler hatte eine Idee. In die Kantinen holen, was die Leute normalerweise rauslockt: die hippen Imbisse, Restaurants und Lieferdienste um die Ecke. Wie soll das funktionieren, Frau Köhler?
„Für mich war Kantine immer wie ein miefiges Schwimmbad im Keller, in das keiner mehr gehen will: Ist nicht cool, hat enorme Fixkosten und nimmt Platz weg. Unternehmen hängen bis zu fünf Jahre lang in Verträgen mit Kantinenbetreibern – egal, ob jemand dort isst oder nicht! Unsere Stärke ist: Wir kennen gute Cateringservices und angesagte Imbisse und holen einfach jede Woche einen anderen rein. Wir können Abgefahrenes probieren, und wem es nicht schmeckt, der kommt nächste Woche wieder. Wir fragen am selben Tag über digitale Tools ab, wie das Essen ankam und was die Mitarbeiter sich wünschen.“
Die Corona-Krise hat Köhlers Start-up mit etwa 60 Mitarbeitern hart getroffen. Zwar zahlte der Kantinen-Großkunde weiter. Aber das ursprüngliche Catering- Geschäft kam über Monate komplett zum Erliegen. Köhler nutzte die Zeit, gewann neue Kunden für ihr Kantinenkonzept und erweiterte ihr Business um Angebote fürs Homeoffice wie Boxen mit vorportionierten, aber ungekochten Zutaten. Sie hofft, dass die Pandemie beschleunigt, woran ohnehin längst gearbeitet wird: eine Kantine mit wenig Gedränge und ohne Bargeld.
Nicht das Essen, sondern das Personal sei der größte Kostenfaktor im laufenden Betrieb einer Kantine, rechnet Yves-Alain Meier vor. Da kämen schnell mindestens 30.000 bis 40.000 Euro im Monat zusammen. Meier steht in der Betriebskantine der Mainzer Kreditversicherung Coface und zeigt eine von ihm entwickelte Bilderkennungssoftware, die dort und in fünf weiteren Firmen eingesetzt wird. Unter einem Bildschirm ist eine Stellfläche für das Kantinentablett, das von einer Lampe ausgeleuchtet und einer Kamera gefilmt wird. Eine künstliche Intelligenz erkennt, was auf dem Tablett liegt und was es kostet und erstellt eine Rechnung. Fertig. Damit das funktioniert, muss die KI vorher mit Fotos von jedem Kantinengericht gefüttert werden. Funktioniert die Kantine der Zukunft also ohne Menschen, Herr Meier?
„Auf keinen Fall. Wir wollen das Kantinenpersonal entlasten. Nur den Job an der Kasse macht die KI, die Person dort geht mit an die Ausgabe, an die Kaffeebar. Da, wo der erfreulichere Kundenkontakt ist. Ich war lange in der Gastronomie und weiß, dass Köche oft die Teller fertig machen müssen und sich nebenbei um die Kasse kümmern. Viele Kantinen sind chronisch unterbesetzt und haben Schwierigkeiten, Personal zu finden. Es wäre schön, wenn unsere KI die Kantinengäste zufriedener macht. Und das Personal sich wieder daran erinnert, warum es sich für die Gastronomie entschieden hat.“
Künstliche Intelligenz und Parmesanschaum – lässt sich so die Kantine retten? Therese Köhler glaubt, dass bei regelmäßiger Arbeit im Homeoffice persönliche Treffen wichtiger werden. „Eine tolle Kantine kann da wertvoll sein und wird in Zukunft vielleicht mehr gebraucht denn je.“